Donnerstag, 9. März 2017

Gendermedizin: Urologinnen in der Karrierefalle



In einer bemerkenswerten Forumsitzung zur Gendermedizin im Rahmen der bayerisch-österreichischen Urologentagung im Sommer in Augsburg ging
es um Karrierechancen von Urologinnen sowie die Vereinbarkeit von Familie und Arztberuf. Zwei Drittel der Ärztinnen glauben nicht an gleiche Karrierechancen wie ihre männlichen Kollegen. 

Kongresspräsidentin Prof. Dorothea Weckermann warnte vor „Social Freezing“ und forderte bessere Strukturen, um familiäre und berufliche Interessen unter einen Hut zu bringen.Weckermann begründete die Wahl des Veranstaltungsmottos „Urologie attraktiv gestalten“ in ihrer Eröffnungsrede: „Ich habe dieses Kongressthema ausgesucht, weil ich zeigen wollte, wohin wir kommen können, wenn es uns nicht gelingt, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Urologinnen zu verbessern.“

Für die allgemeine Einordnung des Themas sorgte die Berliner Unter­nehmerin Dr. Martina Kloepfer, die Initiatorin und Präsidentin der Ver­anstaltungsreihe „Bundeskongress Gender-Gesundheit“ ist. Diese Reihe beschäftigt sich mit den geschlechtsspezifischen Aspekten der medizinischen Versorgung und des gesamten Gesundheitssystems. Seit 14 Jahren schon sind Frauen im Medizinstudium stärker vertreten als Männer. „2006 betrug der Anteil der Frauen im Me­dizinstudium nach Zahlen des Statistischen Bundesamts bereits 63 %“, erklärte Kloepfer. Später jedoch drehen sich die Relationen um, denn 40 % der Männer nehmen eine Oberarzt-Po­sition an, während es bei den Frauen nur 27 % sind. Chefärztinnen in der Uro­logie warten dann nur noch mit einstelligen Prozentanteilen auf.

40 % der Ärztinnen arbeiten weniger als 20 Wochenstunden

Allerdings, so berichtete Kloepfer, würden Frauen schon ihr Medizinstudium oft aus rein altruistischen Motiven starten, während Männer mehr an Fortkommen und Karriere dächten: „Unter dem Strich nehmen Frauen ein Medizinstudium eher aus idealistischen Helfer-Vorstellungen heraus auf, während Männer den Schwerpunkt auf strategische Überlegungen wie Karriereplanung legen.“ Sobald Kinder geboren werden, arbeiten Frauen sehr schnell auf Teilzeit-Stellen. „40,2 % der Ärztinnen arbeiten dann weniger als 20 Wochenstunden. Die Männer arbeiten sehr häufig 45 Stunden pro Woche und mehr. Das beeinflusst natürlich erheblich den weiteren Karriereweg.“

Zwei Drittel der Frauen glauben nicht an gleiche Karrierechancen

Dr. Ulrike Necknig (Foto), Oberärztin der Klinik für Urologie und Leiterin der Abteilung Kinderurologie im Klinikum Garmisch-Partenkirchen, ging auf eine Umfrage des Hartmannbundes (s. Tab.) von 2014 zu den Karriereerwartungen von Frauen im Arztberuf. „Zwei Drittel der befragten Ärztinnen glaubten nicht, dieselben Karrierechancen zu haben wie ihre männlichen Kollegen. 20 % der Befragten glaubten, dass dies vielleicht der Fall sein würde“, fasste Necknig zusammen. Vier von zehn Frauen möchten nach Erreichen des Facharztes nur noch teilweise arbeiten. Die Genera­tion Y ist intensives Arbeiten und lebenslanges Lernen gewöhnt, hat aber eine eingebaute Burn-out-Sperre und legt großen Wert auf flexible Arbeitszeiten sowie die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Diese Generation wird in einem System der befristeten Arbeitsverträge sowie der anwachsenden Bürokratisierung und Arbeitsverdichtung groß, so Necknig.

Frauen sehen sich aus Necknigs Sicht vor allem als Betreuungspersonen, die sich aus der Sorge um die Familie aus der aktiven Rolle im Beruf zurück­zögen. Männer hingegen sähen sich familiär eher als Beziehungspersonen, die unterstützende Arbeiten aus­führten. „Der Wiedereinstieg in eine Vollzeitstelle wird mit zunehmender Teilzeittätigkeit immer schwieriger. Teilzeitbeschäftigte werden in den Betrieben oft schlechter eingeschätzt, abgewertet und auf weniger wichtige Positionen abgeschoben. Erfolg im Beruf wird laut einer US-Studie vor allem als männliche Eigenschaft angesehen. Beliebtheit bei Männern und Erfolg im Beruf korreliert positiv, bei Frauen ist es negativ“, unterstrich Necknig. Laut einer Untersuchung des Bundesministeriums für Familie und  Gesundheit sei Mutterschaft oft mit Teilzeitbeschäftigung und Karriereknick assoziiert. „Eine Teilzeitbeschäftigung wird für Frauen schnell zur Karrierefalle“, machte Ulrike Necknig deutlich.
 


Um der Karrierefalle zu entgehen, unterstützen Unternehmen wie Facebook und Google das sogenannte Social Freezing ideell und materiell. Social Freezing ist nicht medizinisch indiziert, sondern der Begriff beschreibt die Kryo-Konservierung von Eizellen einer gesunden Frau, um später eine Schwangerschaft einzugehen. Ein wesentlicher Grund ist, zunächst einmal Karriere machen zu können und später Kinder zu bekommen.

Prof. Florian Steger (Foto), Direktor des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin an der Universität Ulm, nahm eine ethische Einordnung des Phänomens vor. „Aus juristischer Sicht muss die obligatorische Aufklärung bei Social Freezing eine Freiwilligkeit gewährleisten und hier taucht ein relevantes medizinethisches Problem auf. Da darf man sicher ein Fragezeichen setzen, denn Interessen Dritter können hier sehr wohl eine Rolle spielen“, merkte Steger mit Hinweis auf Google und Facebook an. Wenn die obligatorische Beratung der Frauen rechtssicher sein soll, wird es laut Steger schwierig: „Das Problem besteht hier im Mangel an Langzeitdaten zum Social Freezing. Evidenzgesicherte Aussagen sind in der Aufklärung zum Social Freezing nicht durchgehend möglich.“

Der zweite schwierige Aspekt des ­Social Freezing ist die Sozialethik. „Mittlerweile haben Firmen finanzielle Programme zur Unterstützung ihrer Mitarbeiterinnen aufgelegt. Zu diesem Thema gibt es aktuelle wissenschaftliche Daten der Universität Halle. Seit 2014 unterstützen Google und Facebook ihre Mitarbeiterinnen dabei, sich für eine Kryokonservierung von Eizellen zu entscheiden. Dies geschah explizit mit dem Hinweis auf die selbstbestimmte Lebensplanung. Wie hat nun die Bevölkerung auf dieses Thema reagiert? Es gibt eine FORSA-Befragung aus dem Jahr 2016, an der 1.061 Männer und Frauen zwischen 18 und 30 Jahren teilnahmen. 64 % der Befragten mit Kind oder Kinderwunsch sind dem Social Freezing gegenüber aufgeschlossen: 31 % sagen, dass sie sich das Verfahren für sich vorstellen können und 33 % finden es grundsätzlich akzeptabel. Es gibt also in der Bevölkerung eine große Zustimmung für diese Möglichkeit der selbstbestimmten Familien- und Lebensplanung“, erläuterte Steger die Situation.

Über Freiwilligkeit lässt sich bei Social Freezing streiten

Aus Sicht der Medizinethik zweifelte Steger an, dass es sich tatsächlich um eine Form der weiblichen Selbstbestimmung handele. Einerseits sähen es die Frauen als selbstbestimmten Schritt zur Schwangerschaft, andererseits spürten viele, dass die Freiwilligkeit in Gefahr gerate. Es gehe ein gesellschaftlicher Druck sowie auch ein Druck vom Arbeitgeber aus. „Hätten diese Frauen eine bessere Option der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, wäre der Druck nicht so hoch“, betonte Steger. Ein weiterer Aspekt sind die Risiken von Social Freezing. Viele Kryokonservierungen von Eizellen führen zu Mehrlingsschwangerschaften sowie zu Frühgeburten, stellen die Gynäkologen fest. Ältere Frauen erleiden öfter Komplikationen bei der Schwangerschaft. Zu den Auswirkungen des Social Freezing auf die Kinder gibt es bislang überhaupt keine Daten, so Steger.

Die Frauen selbst scheinen ebenfalls skeptisch zu sein, denn die Nachfrage nach Aufklärung und Social Freezing bei niedergelassenen Gynäkologen ist bislang eher schwach, berichtete Steger. Es werde kaum einmal nach einer solchen Beratung gefragt. Wenn Frauen kommen, sind sie zwischen 35 und 40 Jahre alt. Reproduktionsbiologisch ist dies zu spät, wenn sie zuvor keine Eizellen kryokonserviert haben. Mitten in der beruflichen Karriere wächst die Erkenntnis, dass die weibliche Fertilität zeitlich begrenzt ist. Sie kommen alle zu spät, so der Medizinethiker. Unter dem Strich sei Social Freezing in der gynäkologischen Praxis nur ein marginales Thema. Der gesellschaftliche Druck komme einer Nötigung nahe.

Ob Social Freezing also Ausdruck der reproduktionsmedizinischen Selbstbestimmung der Frau ist, wird also sehr kontrovers diskutiert. „Grundsätzlich bedeutet die freiwillige Entscheidung schon, dass die Frau über ihre reproduk­tionsmedizinische Rolle selbst bestimmt. Aber der aufgebaute gesellschaft­liche Druck ist erheblich und wird von einigen als Form der Nötigung angesehen“, so Steger. Gesellschaftspolitisch stehe die Frau zwischen Mutterschaft und Karriere bzw. ökonomischer Autonomie. „Mit Social Freezing“, so Steger weiter, „werden wir nicht die gesellschaftspolitische Aufgabe lösen. ­Frauen sollten Möglichkeiten haben, jenseits von Social Freezing ihre Karriere zu verfolgen.“       
(Autor: Franz-Günter Runkel)

Freitag, 3. März 2017

Vernetzungsprojekt Heilbronn: Digitale Praxis umfasst auch Medikamentenplan




MEDI-Verbund, Kassen und Berufsverbände knüpften in der Region Heilbronn ein elektronisches Praxisnetz, dessen 60 beteiligte Praxen die Vision von der digitalen Medizin Wirklichkeit werden lassen sollen. Die ersten ­beiden Stufen des Projekts – Da­ten­­austausch und elektronischer ­Medikamentenplan – sind jetzt bewältigt.

109 Ärzte und Psychotherapeuten sowie 10.210 Patienten der AOK Baden-Württemberg und der BKK Audi nehmen am elektronischen Vernetzungsprojekt der Region Heilbronn teil. Aus berufspolitischer Sicht handelt es sich um ein Leuchtturmprojekt in der Entwicklung einer eHealth-Struktur.

14 Urologen nehmen am Vernetzungsprojekt teil

Foto: Der BDU-Landesvorsitzende Dr. Markus Knoll informiert über die digitale Praxis.

Als technische Lösung setzen die Projektbetreiber nach An­gaben des BDU die Vernetzungssoftware ViViAN („Virtuelle Vernetzung im Arztnetz“) der Firma MicroNova ein. Unter den 109 teilnehmenden Ärz­ten befinden sich nach BDU-Angaben 14 Urologen. Den teilnehmenden Ärzten entstehen für die Nutzung der Vernetzungssoftware keine Kosten, weil das Projekt durch die beteiligten Krankenkassen finanziert wird, so der BDU. Der württembergische BDU-Landesvorsitzende Dr. Marcus Ksoll beschreibt den erfolgten Auftakt des Projekts: „In Stufe 1 des Vernetzungsprojekts wurden Behandlungsdaten über gemeinsam behandelte Patienten analog zum Arztbrief zwischen den vernetzten Praxen ausgetauscht.“Sobald der Patient die Einwilligungserklärung unterschrieben hat, werden nach Informationen Ksolls folgende Daten des aktuellen Quartals und des Vorquartals zum „Abruf“ bereitgestellt:

  1. aktuelle Diagnosen / Dauerdiagnosen (alle nach ICD10 codiert),
  2. als Freitextfeld: Therapieempfehlungen, weiteres Vorgehen sowie weitere Diagnostik,
  3. Arzneimittelverordnungen,
  4. Übersicht der Verordnungen im Netzmedikamentenplan,
  5. Laborwerte (aus den vergangenen 14 Tagen),
  6. Informationen zu Allergien,
  7. AU-Informationen mit ICD10-Diagnose (geplant),
  8. Impfungen (geplant).


„In der 2. Stufe des Vernetzungsprojekts wurde ein Netzmedikamentenplan ergänzt. Er führt automatisch alle Medikamente eines Patienten, die durch die vernetzten Praxen verordnet wurden, in einer Übersicht zusammen. Das bezieht sich auf Wirkstoff, Handelsname und Informationen zum Einnahmeschema sowie zum Therapiezeitraum“, so Ksoll. Die Änderungshistorie jeder Verordnung werde trans­parent.

Doppeluntersuchungen sollen bald Vergangenheit sein

Befunde und vorherige Behandlungsdaten könnten nach Darstellung Ksolls ohne zeitliche Verzögerung genutzt werden. Doppeluntersuchungen und resultierende Folgetermine könnten vermieden werden. Ganz wichtig sei, dass Netzmedikamentenplan und Interaktionsprüfung Arznei­mittel­unverträglichkeiten oder auch Allergien vermeiden könnten, so Ksoll. Außerdem werde die papierlose Praxis Realität, weil das Ausdrucken, Einscannen und Versenden von Arztbriefen oder Befundberichten nicht mehr notwendig seien. Diagnosen und sonstige Befunde können per Klick in die eigene Praxissoftware an der richtigen Stelle übernommen werden, wie Ksoll erläutert: „Alle Informationen stehen auf der Karteikarte in der vorhandenen Praxissoftware bereit. Die Umstellung der Praxissoftware ist ohne Aufwand möglich, weil ViViAN unabhängig von der eingesetzten Praxissoftware funktioniert.“

Eine Zwischen-Auswertung der Traffic-Daten von 47 Praxen zeigte, dass 2.157 Datensätze mit insgesamt 15.682 Einträgen übertragen wurden. In Heilbronn hat die Welt der digitalen Medizin begonnen.      (Autor: Franz-Günter Runkel)