Dienstag, 20. Juni 2017

DGU und BDU nähern sich trotz Stolpersteinen an

Nach Jahren der Distanz und Konkurrenz sorgt der neue DGU-General­sekretär Prof. Maurice Stephan Michel für mehr Nestwärme in der uro­logischen Ver­bändefamilie. Berufsverband und Fachgesellschaft schlossen eine schriftliche Vereinbarung über mehr Zusammenarbeit auf Augenhöhe, die aber Raum für unterschiedliche satzungsgemäße Schwerpunkte von DGU und BDU lässt. Im Juni wird ein Ausschuss der Verbände zum ersten Mal tagen, in dem sich die beiden geschäftsführenden Vorstände sowie – themenabhängig – Experten von DGU und BDU drei- bis viermal im Jahr über aktuelle Themen der Urologie wie die Ambulante Spezialfachärztliche Versorgung (ASV) oder die Musterweiter­bildungsordnung unterhalten.
Seit dem DGU-Jahreskongress 2016 in Leipzig müht sich der junge DGU-Generalsekretär Prof. Maurice Stephan Michel (Foto) um eine Annäherung zwischen DGU und BDU. Die nun zwischen beiden Verbänden geschlossene Vereinbarung eröffnet Gemeinsamkeiten, ohne die Unterschiede mit Gewalt zu nivellieren. 

Der lange Weg der Verbände zu Vertrauen und Kooperation


„Institutionell wird es dabei bleiben, dass es einen BDU und eine DGU gibt“, erklärt Michel im Gespräch mit Medical Communications. „Diese Unterteilung ist auch gut so. Beide Verbände sind gewachsene Strukturen, die gute Arbeit machen. Mir kommt es darauf an, das Trennende zwischen Klinikern und Nieder­gelassenen zu überwinden. Stattdessen rege ich eine themenbezogene gemeinsame Arbeit der beiden Verbände an, wobei jeweils der am meisten betroffene Partner die Leitung hat. Zunächst geht es darum, Vertrauen zwischen den Vertretern aufzubauen.“

Traditionell prägten oft Distanz und Misstrauen das Verhältnis zwischen Klinikern und Niedergelassenen. Zu deutlich waren die ökonomischen Interessenunterschiede zwischen dem selbstständigen Freiberufler in der Praxis und dem angestellten Arzt im Krankenhaus. Je nach Region schienen die Gräben unüberwindbar. Insofern ist der Weg zu Einheit und Vertrauen weit. 

DGU und BDU auf einer Etage im Westteil der Hauptstadt


Ein wichtiger symbolischer Schritt war der Umzug der BDU-Geschäftsstelle aus dem Haus der Deutschen Krebsgesellschaft an der Kuno-Fischer-Straße in das neue DGU-Hauptstadtbüro in der Nestorstraße 8–9 unweit des Kurfürstendamms im alten West-Zentrum Berlins.

Beide Verbände arbeiten dort jetzt auf einer Büroetage. „Das war ein sehr wichtiger Schritt, damit auch die beiden Geschäftsführer Frank Petersilie (DGU, d. Red.) und Dr. Roland Zielke (BDU, d. Red.) regelmäßig miteinander sprechen und zusammen arbeiten können“, unterstreicht Michel. Wie schwierig die Annäherung ist, zeigt die Einschätzung von BDU-Geschäftsführer Dr. Roland Zielke (Foto): „Der Berufsverband ist in Vorleistung getreten und hat seinen Geschäftssitz mit der Berliner Geschäftsstelle der DGU in der Nestorstraße zusammengeführt. Dennoch muss diese Zu­sammenarbeit natürlich jetzt gelebt werden. Ein Anfang ist gemacht, jetzt gilt es, die Zusammenarbeit der Verbände dauerhaft mit Leben zu füllen“, fordert Zielke im Gespräch mit Medical Communications. Ein gemeinsames Thema wird die Suche nach einer neuen Immobilie in Berlin für das „Haus der Uro­logie“. DGU und BDU wollen dieses Haus gemeinsam kaufen.

Ein weiteres Glied in der Kette der neuen Gemeinsamkeiten ist eine Art „Koalitionsausschuss der Urologie“. Die geschäftsführenden Vorstände beider Verbände treffen sich mehrfach im Jahr in einem Verbände-Ausschuss und ziehen je nach Agenda Spezialisten hinzu. Im Juni fand bereits das erste Treffen statt. „Für die DGU nehmen regelmäßig Generalsekretär und Geschäftsführer, für den BDU Präsident und Geschäftsführer teil“, so Michel. 

Die Ettlinger Generalprobe des neuen Miteinander


Eine Art Generalprobe für das neue Miteinander gab es während der Frühjahrs-Sitzung des BDU-Hauptausschusses in Ettlingen. Die Sitzung wurde für eine DGU-BDU-Klausur unterbrochen, an der Michel sowie Vorstand Dr. Thomas Speck für die DGU teilnahmen. „Die DGU-BDU-Verein­barung legt fest, dass sich beide Seiten zunächst auf die in ihren jeweiligen Satzungen festgeschriebenen Schwer­punkte konzentrieren. Für den BDU ist dies die Berufspolitik, für die DGU Wissenschaft und Fortbildung.

BDU-Präsident Dr. Axel Schroeder und der DGU-Generalsekretär Prof. Maurice Stephan Michel erklärten bei dieser Klausurtagung, dass die Trennung zwischen niedergelassenen Urologen im Berufsverband sowie klinisch tätigen Urologen in der Fachgesellschaft überwunden werden soll. In ­Zukunft soll viel mehr betont werden, dass beide Verbände gleichberechtigt die Urologie vertreten. Beide Verbände verstehen sich als Vertreter der Uro­logie und wollen die Marke Urologie in Zukunft gemeinsam stärken“, erläutert Zielke den neuen Geist, der nun herrscht. Thematisch sollen die jeweiligen Stärken und Schwerpunkte der Verbände genutzt werden. 

Gemeinsame Weiterbildung ist ein Schlüsselfaktor


Oben auf der von Michel initiierten Agenda steht die zukünftige Struktur der Weiterbildung zum Urologen. Klinische und ambulante Urologie sollen an einem Strang ziehen. Michel verdeutlicht diesen Ansatz: „Für den Assistenten oder die Assistentin gilt, dass sie ein bis zwei Jahre ihrer Weiterbildung in der ambulanten Medizin bei niedergelassenen Urologen absolvieren können. Dadurch haben wir im Endeffekt mehr Ausbildungsplätze als bei rein klinischer Weiterbildung. An der klinischen Kernzeit von drei Jahren wird sich ja nichts ändern. Die Aufstockung der Weiterbildungsplätze um 40 % bewirkt auch, dass wir auslaufende urologische Praxen schneller mit jungen Nachfolgern nachbesetzen können.“ Michel betont: „Ich finde diesen Aspekt sehr wichtig und ich glaube auch, dass junge Urologen eine gute Ausbildung in der urologischen Praxis haben können.“ Die Novelle der Weiterbildungsordnung wird bei beiden Verbänden gleichgewichtig eingestuft. Die DGU kümmerte sich bislang um die Struktur des Urologie-Kapitels und trug maßgeblich zum Entwurf bei. 

Politik soll die ambulante Weiterbildung bezuschussen


„Der BDU muss sich um die Frage der Finanzierung dieser Weiterbildungsplätze in der ambulanten Urologie kümmern. Wir helfen gerne dabei, aber dies ist eine Aufgabe des Berufsverbands. Es geht um die Leistungsfähigkeit der Praxis, wenn ein Praxisassistent dort arbeitet. Wenn es dann nicht möglich ist, mehr Leistungen zu erbringen und abzurechnen, dann müssen wir schon nachfragen, wie man denn diese Weiterbildung finanzieren will. Wir müssen das Thema des stark angewachsenen Versorgungsauftrags bei der Politik ansprechen. Wir sollten in diesem Fall von der Politik fordern, die Weiter­bildung von Praxisassistenten in der urologischen Praxis mit 50 % zu be­zuschussen“, so Michel.

Die Ambulante Spezialfachärztliche Versorgung ist ebenfalls ein gleich­rangiges Thema für beide Verbände. In der DGU sind Prof. Jan Roigas und Vorstand Speck für das Thema ASV zuständig, im BDU unter anderem der Vizepräsident Dr. Holger Uhthoff. Michel beschreibt den aktuellen Stand: „Es gibt ein Konzept der beiden Verbände zur ASV, aber das befindet sich zurzeit noch im geschlossenen Bereich der internen Besprechung und Abstimmung zwischen den Verbänden. Wahrscheinlich werden wir im Spätsommer dieses Jahres so weit sein, um ein detailliertes ASV-Konzept der beiden Verbände öffentlich kommentieren zu können.“ 

Das ASV-Modul Uro­logische Tumoren startet im April 2018


BDU-Geschäftsführer Zielke betrachtet die ASV als berufspolitischen Schwerpunkt des BDU. „Die ASV ist ein klares berufspolitisches Thema, aber selbstverständlich wird die DGU hierbei fachlich eingebunden. Eine Arbeitsgruppe der Verbände besteht schon länger. Mit der Ankündigung des ASV-Bausteins ‚Urologische Tumoren‘ wird es nun ernst. Von jetzt an wird die Arbeit dieser Gruppe oberste Priorität für die Urologen haben“, so Zielke. Er hofft auf eine vertrauensvolle Kooperation mit DGU-Vorstand Speck, der als ­ehemaliger Landesvorsitzender des Berufsverbands in Berlin durchaus das Ver­trauen der Niedergelassenen genießt.Der Gemeinsame Bundesausschuss plant derzeit, in seiner letzten Sitzung im Dezember dieses Jahres das Urologie-Modul der ASV zu beschließen. Am 1. April 2018 soll es dann offiziell in Kraft treten.

Die ASV ist ein ­Diskussionsthema zwischen Verbänden


Im weiteren Gespräch macht Zielke aber auch deutlich, dass die ASV durchaus ein Diskussionsthema zwischen den urologischen Verbänden ist. „Die Ein­bindung eines Klinikträgers“, so der Geschäftsführer, „ist nicht zwingende Voraussetzung für die Implementierung der ASV. Natürlich kann ein stationär tätiger Arzt Teil des ASV-Teams werden, aber es ist keine notwendige Bedingung für die Ambulante Spezialfachärztliche Versorgung. Der wesentliche Beitrag der Klinikträger wird deren Verwaltungsapparat sein. Da die ASV sehr verwaltungsintensiv ist, werden die Klinikträger natürlich ihre Verwaltungskompetenz einbringen. Dem
G-BA ist es wichtig, dass die Facharztgruppen-übergreifende Zusammenarbeit funktioniert. In zweiter Linie geht es dann um die intersekto­rale Koopera­tion zwischen ambulanter und stationärer Medizin. Der G-BA geht davon aus, dass die ASV die On­kologievereinbarung nicht ersetzen, sondern eher ergänzen wird.“
Autor: Franz-Günter Runkel, Medical Communications




Sonntag, 18. Juni 2017

PSA-Screening: DGU und BDU scheuen GKV-Empfehlung


Nach der drastischen Korrektur der PLCO-Ergebnisse zur PSA-Früherkennung 2016 hat nun auch die US Preventive Services Task Force (USPSTF) reagiert und ihr negatives PSA-Votum von 2012 stark relativiert: Sie sieht nun Risiken und Nutzen als nahezu ausgeglichen. Auch DGU und BDU konstatieren eine erneute Wende in der PSA-Bewertung, halten sich aber nach der unglück­lichen Hakenberg-Forderung nach der PSA-Bestimmung als Kassenleistung im Herbst noch zurück. Derzeit glauben Fachgesellschaft und Berufsverband, noch nicht genügend Pfeile im Köcher zu haben, um die GKV-Trutzburg des ­G-BA in der PSA-Frage stürmen zu können.
Die USPSTF sieht Risiken und Nutzen der PSA-Bestimmung heute fast ausgeglichen. Männer zwischen 55 und 69 Jahren, so die US-Empfehlung, sollten gemeinsam mit ihrem Arzt eine individuelle Entscheidung über den PSA-Test treffen. Das PSA-basierte Screening wird bei Männern ab 70 Jahren weiterhin nicht empfohlen. 2009 hatte die US-Studie Prostate, Lung, Colorectal and Ovarian Cancer Screening Trial (PLCO) für weltweit große Ernüchterung in der Bewertung des PSA-Tests gesorgt. Die Daten der 80.000 PLCO-­Patienten hatten im Hinblick auf die Mortalität keinen Unterschied zwischen dem Screeningarm und dem Kontrollarm der Studie ergeben. Plötzlich stand der PSA-Wert für Geld­verschwendung, Über­diagnostik und Übertherapie. 2012 schloss sich die USPSTF dem negativen Votum an. 

PLCO-Daten durch frühere Tests entscheidend verfälscht


Es dauerte weitere vier Jahre, bis eine erneute Auswertung der PLCO-Daten erstaun­liche Resultate ergab. Viele Männer aus dem PLCO-Kontrollarm waren bereits zuvor zum PSA-Test gegangen und hatten die PLCO-Ergebnisse damit ent­scheidend verfälscht. Unter dem Strich hatten neun von zehn PLCO-Teilnehmern aus der Kontrollgruppe bereits eine PSA-Bestimmung erhalten. Absurderweise ergaben sich in der Kontrollgruppe sogar mehr PSA-Bestimmungen als im Screeningarm. „Letztlich wurden also Äpfel mit Äpfeln verglichen und am Ende kam logischerweise heraus, dass Äpfel gleich Äpfel sind“, erklärte Prof. Gerd Lümmen, Urologie-Chefarzt im St. Josef Hospital Troisdorf bei einer Tagung in Düsseldorf. In der Studie wurden demnach zwei Grup­pen verglichen, die beide fast gleich häufig PSA-getestet wurden. DGU-Generalsekretär Prof. Maurice Stephan Michel betonte im DGU-Pressedienst: „Es verwundert nicht, dass dabei kein relevanter Unterschied zwischen beiden Gruppen gefunden werden konnte. Diese Erkenntnisse haben in der Zusammenschau mit der aktualisierten Auswertung der ERSPC-Studie international eine Neubewertung des Stellenwerts des PSA-Tests eingeleitet.“

In der European Randomized Study of Screening for Prostate Cancer (ERSPC) führte das PSA-Sreening bei knapp 350 von 10.000 Männern zur Ent­deckung eines Prostatakarzinoms. Die Studie mit insgesamt 160.000 Teilnehmern aus vielen europäischen Ländern ergab eine signifikante Senkung der Mortalität im Screeningarm im Vergleich zum Kon­trollarm, so Lümmen. Die Reduktion lag bei etwa 21%.

Doch trotz dieser stark veränderten internationalen Forschungslage bleiben DGU und BDU vorsichtig. Der PSA-Test ist berufspolitisch ein heißes Eisen, denn er ist ein Symbol für die privat­medizinische Unabhängigkeit der niedergelassenen Urologen, das viele Niedergelassene trotz ökonomisch eher marginaler Bedeutung gerne als GOÄ-Leistung erhalten möchten. Zudem ist das prostataspezifische Antigen trotz der veränderten Forschungsdaten ein ambivalentes Instrument, bei dem zwischen Nutzen und Folgen wohl abgewogen sein sollte. 

BDU sieht die Zeit noch nicht reif für ein GKV-PSA-Screening


„Für eine allgemeine Screening-Empfehlung ist die Zeit noch nicht reif“, betont deshalb BDU-Präsident Dr. Axel Schroeder. Allerdings wagen sich die Verbände dann doch ein Stück weit aus der berufspolitischen Deckung und formulieren eine aktuelle Empfehlung, wann der PSA-Wert mit einem Patienten, der den Wunsch nach einer Früh­erkennungsuntersuchung hat, erörtert werden sollte. 


DGU-Präsident Prof. Tilman Kälble (Foto) fasst es in folgende Worte: „Der sogenannte Baseline-PSA im Alter von 40 oder 45 Jahren gibt eine gute Information über das individuelle Risiko, irgendwann später an einem Prostatakarzinom zu erkranken. Je nach Höhe dieses Werts, insbesondere wenn bei jüngeren Männern in der ­Familie ein Prostatakarzinom bereits vorkam, kann angemessen reagiert werden.“ Von dieser Konstellation hängen auch die Kontrollintervalle ab, die bis zu fünf Jahre betragen und lebensrettend sein können. Neben der Baseline-PSA-Bestimmung erscheint eine Testung zwischen dem 55. und 70. Lebensjahr das Risiko einer Übertherapie eindämmen zu können.

Trotzdem leiten DGU und BDU daraus keine allgemeine Forderung nach dem PSA-Test als Kassenleistung ab. Die beiden urologischen Verbände teilen ebenso wie der Bundesverband Prostatakrebs-Selbsthilfe (BPS) die Einschätzung, dass abgewartet werden sollte, bis die Datenlage so stark ist, dass die Aussichten auf ein positives Votum des G-BA hoch genug sind. „Bis dahin wollen wir weiter gemeinsam an der öffentlichen Wahrnehmung und objektiven Einschätzung und Bedeutung des PSA-Werts arbeiten, aber auch alternative Früherkennungsuntersuchungen des Prostatakarzinoms wissenschaftlich weiter untersuchen“, so DGU-Pressesprecher Prof. Christian Wülfing. Übrigens wird der PSA-Test auch auf dem DGU-Kongress im September in Dresden ein wichtiges Thema sein. Dann soll das PSA-Screening auf den Prüfstand gestellt werden.

Patientenverband BPS will risikoadaptierte PSA-Tests


Der BPS-Vorsitzende Günter Feick hat die längst überfällige Empfehlung der USPSTF ausdrücklich begrüßt. Sie bestätige die Position des Verbands: Der PSA-Test sei noch immer die beste Methode, um die Notwendigkeit einer leitlinienkonformen Biopsie rechtzeitig zu erkennen, mit der ein Verdacht auf Prostatakrebs zunächst ausgeschlossen oder bestätigt werden könne. Über Nutzen und Risiken des PSA-Tests sollten Patienten von ihren Ärzten ausführlich informiert werden, so Feick. Ein kassenfinanziertes PCa-Früherkennungsprogramm in Deutschland müsse die relevante Altersgruppe, die PSA-Schwellenwerte, die Häufigkeit des PSA-Tests, der bildgebenden Verfahren und Biopsien definieren.
Autor: Franz-Günter Runkel



Mittwoch, 14. Juni 2017

Lässt sich die sektorale Aufspaltung überwinden?



Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen arbeitet an einer radikalen Fusion des ambulanten und des stationären Versorgungssektors mit einer einheitlichen Gebührenordnung für beide Bereiche. Die Überwindung der sektoralen Aufspaltung des Gesundheits­wesens war das Leitthema auf dem Gesundheitskongress des Westens vom 7. bis 8. März
in Köln. Prof. Wolfgang Greiner, Mitglied des Sachverständigenrats, plädierte für eine radikale Harmonisierung in einem Schritt. Natürlich stieß dieses ­Ansinnen bei den ärztlichen Standesvertretern auf scharfe Kritik.

Bei der Kongresseröffnung prangerte die nordrhein-westfälische Gesundheitsministerin Barbara Steffens „die Kluft zwischen ambulantem und stationärem Sektor“ an. Informations­austausch und Kommunikation zwischen den Sektoren seien schlecht. Trotz ­Digitalisierung sei die elektronische Vernetzung der Leistungserbringer zwischen den Sektoren mangelhaft. Weder die elektronische Patientenakte noch die Fallakte sei in Sicht. BMG-Abteilungsleiter Oliver Schenk betonte: „Für das Bundesgesund­heitsministerium ist die Überwindung der Schnittstellen die zentrale Richtschnur des Handelns für die Zukunft.“

Pro und Kontra zur radikalen Systemreform


Prof. Wolfgang Greiner, Mitglied des Sachverständigenrats, beschrieb auf der Kongresspressekonferenz den Plan seines Gremiums: „Unser Vorhaben bezieht sich genau auf diesen Punkt der Überwindung der Sektorengrenzen im Gesundheitswesen. Im Grunde geht unser Konzept mehr in Richtung eines ‚Big Bang‘. Wir glauben eigentlich nicht mehr, dass wir durch Änderungen im Detail, also gemeinsame Budgets oder gemeinsame Komplexpauschalen zwischen den einzelnen Sektoren, das Grund­problem lösen können. Die Schaf­fung eines weiteren Versorgungssektors wird nicht die Zukunft sein. Wir werden ein ganz anderes System haben müssen, um die Probleme zu lösen.“

Bei aller Begeisterung sah Andreas Storm, Vorstandsvorsitzender der DAK Gesundheit, große Hürden vor einer radikalen Systemreform. „Es gibt zu viele Player im System, die bei einer solchen Lösung nicht mitmachen werden. Es gibt auch viele verfassungsrechtliche Hürden“, betonte Storm. In der nächsten Legislaturperiode gehe es zunächst darum, die sektorübergreifende Versorgung aus ihrem Nischen­dasein herauszuführen.

Pauschalen für Technik und ärztliche Leistung

Bei einer weiteren Kongressveran­staltung zu den Chancen einer neuen einheitlichen Vergütungsordnung für ambulante und stationäre Leistungen wurde der Kern des Sektorenproblems sichtbar: Lagerdenken und organisatorische Zementierung der Sektoren. Für Dr. Wolfgang Dryden, Vorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe, war Honorarpolitik immer auch Strukturpolitik. Drydens Grundfrage also lautete: „Wohin soll eine Vergütungspolitik steuern?“ Eine solche gemeinsame Vergütungsstruktur müsse unbedingt regionale Unterschiede berücksichtigen. „Der Arzt im Ruhrgebiet hat mit einer ganz anderen Patientendichte zu tun als der Arzt im länd­lichen Raum. Wenn ich regionale Problembereiche adressieren will, muss sich eine Praxis auch strukturell so finanzieren lassen, dass sie sich auch in Regionen mit geringerem Einkommen der Bevölkerung trägt“, forderte Dryden. Ein Honorarmodell müsse also die ­Bereitstellung der notwendigen Versorgungsstruktur finanzieren und regionale Unterschiede abfedern. Für Dryden war klar: „Wir brauchen eine technische Bereitstellungspauschale und eine ärztliche Leistungspauschale.“

Jochen Brink, Präsident der Kranken­hausgesellschaft in Nordrhein-West­falen, sah in der sektorübergreifenden Versorgung und Vergütung die zentrale Aufgabe und Chance. „Ärztemangel, erste Regionen mit Versorgungsdefi­ziten und nach wie vor vorhandene Schnittstellenprobleme zwischen den Sektoren zeigen: Das Problem der sektorenübergreifenden Versorgung ist nicht gelöst. Zahlreiche Einzel­lösungen des Gesetzgebers vom Innovationsfonds bis zur ambulanten spezialfachärztlichen Versorgung haben bis heute kein System aus einem Guss geschaffen. Wie könnte der ‚Big Bang‘ denn aus­sehen? Im Grunde müsste man sich eine regionale Versorgungsstruktur ansehen und dann anhand der zu erwartenden Krankheitsarten überlegen: Wie viele niedergelassene Ärzte, wie viele Fachärzte und wie viele Krankenhäuser werden benötigt? Das wäre eine Revolution der Planung. Wer aber soll dies umsetzen?“, fragte Brink.
Aus Sicht der nordrhein-westfälischen Krankenhaus-Gesellschaft sollte es für die nächste Legislaturperiode folgende Ansatzpunkte geben:

  1. Sektorenübergreifende ­Digitalisierung
  2. Sektorenübergreifende ­gemeinsame ambulante ­Notfallversorgung
  3. Weiterer Abbau von Schnittstellenproblemen zwischen den Sektoren ambulant, stationär, Rehabilitation und Pflege
  4. Weitere Modernisierung der ­doppelten Facharztschiene.

Die Krankenhausplanung der Länder im stationären Bereich stehe heute einer bundeseinheitlichen Bedarfs­planung im Bereich der Vertragsärzte gegenüber. Zur Berücksichtigung der länderspezifischen Unterschiede soll­-te die Verantwortung der Länder für die regionale Versorgungsplanung gestärkt werden.

19 Sondertöpfe lassen Zweifel an der Vergütungseinheit zu


Aus vertragsärztlicher Sicht artikulierte Dr. Bernhard Rochell (Foto), Verwaltungsdirektor der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, große Zweifel am Aufbau einer einheitlichen Ver­gütungsordnung. Angesichts von 19 Sonderregelungen für ambulant-stationäre Hybridleistungen falle der Glaube an den Erfolg schwer. Eine für alle? Diese Frage werde ja von allen Protagonisten immer wieder gestellt – speziell wenige Monate vor einer Bundestagswahl.

Angesichts einer extrem komplizierten Vergütungsstruktur mit vielen Ausnahmen und Sonderregelungen riet Rochell hingegen von einer Revolution der verschiedenen Vergütungssysteme mit dem Ziel einer vereinheitlichten Gebührenordnung ab. „Das System besteht heute aus historisch gewachsenen Unterschieden. Ich meine, wir sollten zunächst einmal ein einheit­liches System der Innovationsfinanzierung im belegärztlichen Bereich und der ASV nach dem Verbotsvorbehalt [Innovation ohne vorhergehende Erlaubnis, d. Red.] anpacken. In der Finanzierung der ärztlichen Weiterbildung kann ein besonderer Schwerpunkt auf die Förderung der ambulanten Weiterbildungen gelegt werden. Die Notfallversorgung könnte man als Startpunkt einer gemeinsamen einheitlichen Versorgung nehmen“, schlug Rochell vor. Viele der 19 heutigen Sonderregelungen seien von der gegenwärtigen großen Koali­tion geschaffen oder erweitert worden. „Ich finde es dann immer sehr spannend, wenn die gleichen Protagonisten etwas später eine Vereinheitlichung der Gebührenordnungen fordern. Kurz zuvor haben sie die Schatzkiste der Sonderregeln noch einmal kräftig aufgefüllt“, kommentierte Rochell nicht ohne ironische Note. Dringend empfahl er, das duale Krankenversicherungssystem zu bewahren, weil es wenigstens den Wettbewerb innerhalb des Gesundheitssystems erlaube.

Wasem mahnt normative Entscheidungen der Politik an

„Es gibt gute Gründe, eine Harmonisierung der Vergütungen zwischen Krankenhaus und vertrags­ärztlicher Versorgung anzustreben“, unterstrich Prof. Jürgen Wasem, Lehrstuhl für Medizinmanagement an der Univer­sität Duisburg-Essen. Im Unterschied zu Dryden und Rochell glaubt Wasem auch an die Möglichkeit der Reali­sierung. „Die Entscheidungen, die wir hierfür treffen müssen, sind nicht nur faktenbasiert, sondern auch normativ politisch. Da darf sich die Politik nicht wegducken. Auf der technischen Ebene stellt sich die Aufgabe, gleiche Leistungen zu identifizieren, zu kalkulieren und Vergütungen festzulegen. Auf der Seite der ärztlichen Leistungen ist dies schwieriger. Hier gibt es auch grundsätzliche Unterschiede, die auf politischen Entscheidungen beruhen. Dies gilt etwa für die Innovationsoffenheit oder Investitionsfinanzierung. Auch wird sich die Frage stellen, ob der Charakter der beiden Sektoren als budgetierte Systeme bei der Harmonisierung erhalten bleibt“, hob Wasem hervor.

Auf der Ebene der Gebührenordnung in EBM und DRG sei es notwendig, die gemeinsamen Leistungsbestandteile zu extrahieren. Unterschiede im Pa­tientengut seien hier ebenso zu prüfen wie die Kosten- und Vergütungs­relevanz im Sinne einer Risikoadjus­tierung. „Ich würde einen Unterschied zwischen EBM und GOÄ auf der einen Seite sowie EBM und DRG auf der anderen Seite machen. Wir übernehmen uns, wenn wir alles in ­einem Rutsch schaffen wollen“, bremste Wasem. Es würde ihn sehr wun-dern, wenn der „Big Bang“ Teil eines zukünftigen Koali­tionsvertrags werden würde. Der Themenkomplex EBM-GOÄ in Kom­bination mit der Frage ambulanter bzw. stationärer Leistungen überfordere die Bundespolitik sicher.      
Autor: Franz-Günter Runkel

Freitag, 19. Mai 2017

Hilft der Urologe oder fragen wir Dr. Watson?


Das selbstlernende und sprachbegabte Computerprogramm Watson von IBM erstellt knifflige Diagnosen anhand von Forschungsdaten und elektronischen Fallakten. Trotzdem wird der Arzt in der Medizin 4.0 nicht überflüssig, sondern er nutzt Evidenzwissen zur Entscheidungshilfe in schwierigen Fällen. Eine Big-Data-Veranstaltung auf dem Gesundheitskongress des Westens im Kölner Gürzenich fragte nach der zukünftigen Rolle des Arztes und nach Gründen der Untätigkeit von Politik und medizinischen Leistungsanbietern.

Für den ehemaligen Berliner Ärztekammer-Präsidenten Dr. Ellis E. Huber sind Digitalisierung und die Möglichkeiten der Informationstechnologie für den Arzt der Zukunft ein Segen und eine Gefahr zugleich. Der Arzt der Zukunft werde nicht mehr als Wissensträger gebraucht, sondern als autonome und kritische Persönlichkeit mit intuitiver Fähigkeit. Huber quält allerdings eine konkrete berufs- und honorar­politisch begründete Angst: „Ich kann mich mit Informationstechnologien den Verführungskünsten einer kapitalistischen Wirtschaft ausliefern. Ich kann mit dieser Technologie auch die Kolonialisierung des Leibes für Geldinteressen weitertreiben. Ich kann diese Technologie allerdings auch einsetzen, um für Ärzte mehr Handlungskompetenz und mehr Sinnhaftigkeit in ihren Arbeits­feldern zu schaffen. Vor diesem Hintergrund bin ich natürlich besorgt, dass große Teile der Ärzteschaft die Technologie ablehnen, weil sie zu viel Transparenz herstellt.

Prof. Jochen A. Werner, Ärztlicher Di­rektor und Vorstandsvorsitzender am Universitätsklinikum Essen, rechnet mit einer dramatischen Veränderung der ärztlichen und pflegerischen Berufe, die er aber positiv sieht: „Im Zuge des Lean Managements werden Prozessstandardisierungen und Prozessop­timierungen so viele Einfluss gewinnen, dass Pflegekräfte und Ärzte den Haupt­teil ihrer Arbeitszeit wieder direkt am Patienten verbringen können.“ So ließen sich zu Beispiel zeitintensive bürokratische Arbeiten durch den technologischen Fortschritt reduzieren.

Ist die Digitalisierung Segen oder doch Überforderung?

Dr. Johannes Salem (Foto), GeSRU-Vorsitzender und Facharzt für Urologie am Universitätsklinikum Köln, glaubt an die Unersetzbarkeit des Arztes aus Fleisch und Blut: „Ich bin der festen Überzeugung, dass Menschen immer von Menschen therapiert werden möchten. Die Frage ist, welche Funktionen der Arzt dabei übernimmt. Die Komplexität der medizinischen Fachdisziplinen nimmt deutlich zu. Der Stand der Technik verändert sich und das medizinische Wissen erweitert sich ständig. Die Digitalisierung kann in erster Linie eine Überforderung sein“, befürchtete Salem.

Aber die digitale Transformation gebe dem Arzt auch mehr Zeit für seine Kernkompetenz: die Versorgung der Patienten. „Ich bin als Mensch und Arzt für den anderen Menschen da. Wenn es die Digitalisierung schafft, uns diese Freiräume zu geben, dann ist sie für den Arzt ein Segen“, glaubt der Urologe. In der Gegenwart findet Salem bei jungen Ärzten ein Gefühl der Überforderung. „Der Alltag frisst viele von uns auf. Wir brauchen Freiräume für Kreativität, Freiräume für Entwicklung“, so Salem.

Wer macht dem Gesundheitssystem digitale Beine?

Prof. Axel Ekkernkamp, Geschäftsführer und Ärztlicher Direktor am Unfallkrankenhaus Berlin, fragte nach dem praktischen Nutzen des Watson-Com­puters in der Gegenwart. „Im Institut für seltene Erkrankungen am Universitätsklinikum Marburg wird der Watson-Computer bereits leihweise eingesetzt. In 98 % der Fälle wird der Computer nicht benötigt. Wenn es aber in den restlichen 2 % der Fälle wirklich schwierig wird, dann hilft das Watson-Wissen ungemein. Die Frage lautet also nicht: Arzt oder Watson? Beides ist sinnvoll“, stellte Ekkernkamp fest.

Die digitale Entwicklung vollziehe sich im Schneckentempo. Während in der Arbeitswelt 4.0 ein revolutio­närer Wandel stattfinde, verharrten viele Krankenhäuser unbeweglich im Zeit­alter von Fax und Festnetz-Telefon. „Ich suche gerne nach Treibersystemen für die digitale Transformation. Das können nicht die Hersteller, das kann nicht IBM sein. In dieser Hinsicht sind Ärzte eine wichtige Gruppe. Etwa die Hälfte der Ärzteschaft hält aber digitale Arbeitsmittel leider für Teufelszeug, das nur hohe Kosten verursacht. Die Krankenhäuser warten auf eine Investition des Staates, die aber nicht kommt. Die Politik bleibt in dieser wichtigen Geldfrage untätig“, so Ekkernkamp. Nur der Pa­tient und Wähler könne der Politik Beine machen, die digitale Transfor­mation zu finanzieren.

Autor: Franz-Günter Runkel - Medical Communications