Mittwoch, 14. Juni 2017

Lässt sich die sektorale Aufspaltung überwinden?



Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen arbeitet an einer radikalen Fusion des ambulanten und des stationären Versorgungssektors mit einer einheitlichen Gebührenordnung für beide Bereiche. Die Überwindung der sektoralen Aufspaltung des Gesundheits­wesens war das Leitthema auf dem Gesundheitskongress des Westens vom 7. bis 8. März
in Köln. Prof. Wolfgang Greiner, Mitglied des Sachverständigenrats, plädierte für eine radikale Harmonisierung in einem Schritt. Natürlich stieß dieses ­Ansinnen bei den ärztlichen Standesvertretern auf scharfe Kritik.

Bei der Kongresseröffnung prangerte die nordrhein-westfälische Gesundheitsministerin Barbara Steffens „die Kluft zwischen ambulantem und stationärem Sektor“ an. Informations­austausch und Kommunikation zwischen den Sektoren seien schlecht. Trotz ­Digitalisierung sei die elektronische Vernetzung der Leistungserbringer zwischen den Sektoren mangelhaft. Weder die elektronische Patientenakte noch die Fallakte sei in Sicht. BMG-Abteilungsleiter Oliver Schenk betonte: „Für das Bundesgesund­heitsministerium ist die Überwindung der Schnittstellen die zentrale Richtschnur des Handelns für die Zukunft.“

Pro und Kontra zur radikalen Systemreform


Prof. Wolfgang Greiner, Mitglied des Sachverständigenrats, beschrieb auf der Kongresspressekonferenz den Plan seines Gremiums: „Unser Vorhaben bezieht sich genau auf diesen Punkt der Überwindung der Sektorengrenzen im Gesundheitswesen. Im Grunde geht unser Konzept mehr in Richtung eines ‚Big Bang‘. Wir glauben eigentlich nicht mehr, dass wir durch Änderungen im Detail, also gemeinsame Budgets oder gemeinsame Komplexpauschalen zwischen den einzelnen Sektoren, das Grund­problem lösen können. Die Schaf­fung eines weiteren Versorgungssektors wird nicht die Zukunft sein. Wir werden ein ganz anderes System haben müssen, um die Probleme zu lösen.“

Bei aller Begeisterung sah Andreas Storm, Vorstandsvorsitzender der DAK Gesundheit, große Hürden vor einer radikalen Systemreform. „Es gibt zu viele Player im System, die bei einer solchen Lösung nicht mitmachen werden. Es gibt auch viele verfassungsrechtliche Hürden“, betonte Storm. In der nächsten Legislaturperiode gehe es zunächst darum, die sektorübergreifende Versorgung aus ihrem Nischen­dasein herauszuführen.

Pauschalen für Technik und ärztliche Leistung

Bei einer weiteren Kongressveran­staltung zu den Chancen einer neuen einheitlichen Vergütungsordnung für ambulante und stationäre Leistungen wurde der Kern des Sektorenproblems sichtbar: Lagerdenken und organisatorische Zementierung der Sektoren. Für Dr. Wolfgang Dryden, Vorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe, war Honorarpolitik immer auch Strukturpolitik. Drydens Grundfrage also lautete: „Wohin soll eine Vergütungspolitik steuern?“ Eine solche gemeinsame Vergütungsstruktur müsse unbedingt regionale Unterschiede berücksichtigen. „Der Arzt im Ruhrgebiet hat mit einer ganz anderen Patientendichte zu tun als der Arzt im länd­lichen Raum. Wenn ich regionale Problembereiche adressieren will, muss sich eine Praxis auch strukturell so finanzieren lassen, dass sie sich auch in Regionen mit geringerem Einkommen der Bevölkerung trägt“, forderte Dryden. Ein Honorarmodell müsse also die ­Bereitstellung der notwendigen Versorgungsstruktur finanzieren und regionale Unterschiede abfedern. Für Dryden war klar: „Wir brauchen eine technische Bereitstellungspauschale und eine ärztliche Leistungspauschale.“

Jochen Brink, Präsident der Kranken­hausgesellschaft in Nordrhein-West­falen, sah in der sektorübergreifenden Versorgung und Vergütung die zentrale Aufgabe und Chance. „Ärztemangel, erste Regionen mit Versorgungsdefi­ziten und nach wie vor vorhandene Schnittstellenprobleme zwischen den Sektoren zeigen: Das Problem der sektorenübergreifenden Versorgung ist nicht gelöst. Zahlreiche Einzel­lösungen des Gesetzgebers vom Innovationsfonds bis zur ambulanten spezialfachärztlichen Versorgung haben bis heute kein System aus einem Guss geschaffen. Wie könnte der ‚Big Bang‘ denn aus­sehen? Im Grunde müsste man sich eine regionale Versorgungsstruktur ansehen und dann anhand der zu erwartenden Krankheitsarten überlegen: Wie viele niedergelassene Ärzte, wie viele Fachärzte und wie viele Krankenhäuser werden benötigt? Das wäre eine Revolution der Planung. Wer aber soll dies umsetzen?“, fragte Brink.
Aus Sicht der nordrhein-westfälischen Krankenhaus-Gesellschaft sollte es für die nächste Legislaturperiode folgende Ansatzpunkte geben:

  1. Sektorenübergreifende ­Digitalisierung
  2. Sektorenübergreifende ­gemeinsame ambulante ­Notfallversorgung
  3. Weiterer Abbau von Schnittstellenproblemen zwischen den Sektoren ambulant, stationär, Rehabilitation und Pflege
  4. Weitere Modernisierung der ­doppelten Facharztschiene.

Die Krankenhausplanung der Länder im stationären Bereich stehe heute einer bundeseinheitlichen Bedarfs­planung im Bereich der Vertragsärzte gegenüber. Zur Berücksichtigung der länderspezifischen Unterschiede soll­-te die Verantwortung der Länder für die regionale Versorgungsplanung gestärkt werden.

19 Sondertöpfe lassen Zweifel an der Vergütungseinheit zu


Aus vertragsärztlicher Sicht artikulierte Dr. Bernhard Rochell (Foto), Verwaltungsdirektor der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, große Zweifel am Aufbau einer einheitlichen Ver­gütungsordnung. Angesichts von 19 Sonderregelungen für ambulant-stationäre Hybridleistungen falle der Glaube an den Erfolg schwer. Eine für alle? Diese Frage werde ja von allen Protagonisten immer wieder gestellt – speziell wenige Monate vor einer Bundestagswahl.

Angesichts einer extrem komplizierten Vergütungsstruktur mit vielen Ausnahmen und Sonderregelungen riet Rochell hingegen von einer Revolution der verschiedenen Vergütungssysteme mit dem Ziel einer vereinheitlichten Gebührenordnung ab. „Das System besteht heute aus historisch gewachsenen Unterschieden. Ich meine, wir sollten zunächst einmal ein einheit­liches System der Innovationsfinanzierung im belegärztlichen Bereich und der ASV nach dem Verbotsvorbehalt [Innovation ohne vorhergehende Erlaubnis, d. Red.] anpacken. In der Finanzierung der ärztlichen Weiterbildung kann ein besonderer Schwerpunkt auf die Förderung der ambulanten Weiterbildungen gelegt werden. Die Notfallversorgung könnte man als Startpunkt einer gemeinsamen einheitlichen Versorgung nehmen“, schlug Rochell vor. Viele der 19 heutigen Sonderregelungen seien von der gegenwärtigen großen Koali­tion geschaffen oder erweitert worden. „Ich finde es dann immer sehr spannend, wenn die gleichen Protagonisten etwas später eine Vereinheitlichung der Gebührenordnungen fordern. Kurz zuvor haben sie die Schatzkiste der Sonderregeln noch einmal kräftig aufgefüllt“, kommentierte Rochell nicht ohne ironische Note. Dringend empfahl er, das duale Krankenversicherungssystem zu bewahren, weil es wenigstens den Wettbewerb innerhalb des Gesundheitssystems erlaube.

Wasem mahnt normative Entscheidungen der Politik an

„Es gibt gute Gründe, eine Harmonisierung der Vergütungen zwischen Krankenhaus und vertrags­ärztlicher Versorgung anzustreben“, unterstrich Prof. Jürgen Wasem, Lehrstuhl für Medizinmanagement an der Univer­sität Duisburg-Essen. Im Unterschied zu Dryden und Rochell glaubt Wasem auch an die Möglichkeit der Reali­sierung. „Die Entscheidungen, die wir hierfür treffen müssen, sind nicht nur faktenbasiert, sondern auch normativ politisch. Da darf sich die Politik nicht wegducken. Auf der technischen Ebene stellt sich die Aufgabe, gleiche Leistungen zu identifizieren, zu kalkulieren und Vergütungen festzulegen. Auf der Seite der ärztlichen Leistungen ist dies schwieriger. Hier gibt es auch grundsätzliche Unterschiede, die auf politischen Entscheidungen beruhen. Dies gilt etwa für die Innovationsoffenheit oder Investitionsfinanzierung. Auch wird sich die Frage stellen, ob der Charakter der beiden Sektoren als budgetierte Systeme bei der Harmonisierung erhalten bleibt“, hob Wasem hervor.

Auf der Ebene der Gebührenordnung in EBM und DRG sei es notwendig, die gemeinsamen Leistungsbestandteile zu extrahieren. Unterschiede im Pa­tientengut seien hier ebenso zu prüfen wie die Kosten- und Vergütungs­relevanz im Sinne einer Risikoadjus­tierung. „Ich würde einen Unterschied zwischen EBM und GOÄ auf der einen Seite sowie EBM und DRG auf der anderen Seite machen. Wir übernehmen uns, wenn wir alles in ­einem Rutsch schaffen wollen“, bremste Wasem. Es würde ihn sehr wun-dern, wenn der „Big Bang“ Teil eines zukünftigen Koali­tionsvertrags werden würde. Der Themenkomplex EBM-GOÄ in Kom­bination mit der Frage ambulanter bzw. stationärer Leistungen überfordere die Bundespolitik sicher.      
Autor: Franz-Günter Runkel

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen